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danielabritzelmayr

Liebe auf den zweiten Blick




Ich gehöre zu den Menschen, die sich durch das Schreiben eigener Geschichten näherkommen, sich ordnen und strukturieren können. Wenn ich Geschichten aus meinem Leben erzähle, insbesondere alltägliche Begebenheiten, entsteht eine besondere Kraft in mir. Ich entwickle eine neue Sicht auf das Leben. Der amerikanische Philosoph Alasdair MacIntyre beschreibt den Menschen als ein "storytelling animal". Unsere Identität wird ganz wesentlich dadurch geformt, dass wir Geschichten über uns und unser Leben erzählen. Das scheint auf mich zuzutreffen.


Auch mit diesem Blogartikel beginne ich mit einer Geschichte aus meinem Leben. Momentan bin ich sehr traurig, weil es meiner Katze Luna gesundheitlich sehr schlecht geht.


Manchmal ist es schwer, die richtigen Worte zu finden. Manchmal fällt es schwer, das eigene Wissen tatsächlich umzusetzen. Ich bin mir bewusst, dass das Leben auch aus Schmerz und Leid besteht und dass ich die Menschen und Tiere, die ich liebe, nicht festhalten kann. Ich weiß, dass das Leben Veränderung bedeutet und dass Menschen glücklicher sind, die die Vergänglichkeit nicht nur als vage betrachten. Und dennoch gibt es in mir eine Stimme, die laut schreit: "Ich möchte, dass alles so bleibt, wie es ist!"


Aktuell müssen Menschen in meinem Umfeld lernen zu akzeptieren, dass ihnen nahestehende Menschen an Krebs, Demenz oder anderen schweren medizinischen Diagnosen leiden können. Ängste und Sorgen sind damit verbunden, und der Wert der Gesundheit wird einem erst wieder bewusst. Auch für sie schreibe ich diesen Blogartikel.


Vor etwa 13 Jahren stand ich im Tierheim mit meiner Mutter und meinem Stiefvater vor einem Fenster. Von dort aus sahen wir eine Gruppe von Katzenbabys. Mein Blick fiel sofort auf meine heutige Katze Knopf: große Augen, ein leicht depressiver Ausdruck, und dennoch etwas Erhabenes an sich – Liebe auf den ersten Blick.


Neben uns standen mehrere Eltern mit ihren Kindern. Eine Mitarbeiterin des Tierheims erklärte: "Kinder haben Vortritt und dürfen zuerst wählen." Ein kleines Mädchen überlegte zwischen der schwarzen Katze und der getigerten, meinem Knopf. Obwohl ich Kinder sehr mag, wollte ich fast protestieren: "Warum dürfen Kinder zuerst?" Doch das Mädchen entschied sich für die schwarze Katze. Erleichtert sagte ich schnell: "Ich hätte gerne die Getigerte."


Da es unsicher war, ob Knopf eine Wohnungskatze werden würde, erklärte die Mitarbeiterin: "Dann müssen Sie noch eine zweite Katze nehmen." Das musste ich erst mit meinem Mann besprechen, der wenig begeistert war. Doch über das Wochenende entschieden wir uns, zwei Katzen zu nehmen – ich muss zugeben, auf mein ständiges Drängen hin. Am Montagmorgen rief ich aufgeregt im Tierheim an und teilte der Mitarbeiterin mit, dass wir zwei Katzen nehmen würden. Sie sagte: "Es ist nur noch eine schwarz-weiße übrig." Als ich sie im Tierheim sah, verstand ich, warum sie noch keiner mitgenommen hatte. Sie war nicht sehr ansehnlich. Mein Stiefvater nannte sie anfangs "der Chinese" (da fangen die Stereotypen schon an) wegen ihres schmalen Kopfes und der schmalen Augen. Auch mein Mann fand sie nicht hübsch und ärgerte sich besonders über ihren Bewegungsdrang, der monatelang anhielt und einiges in unserer Wohnung kaputt machte. Er war wirklich genervt von ihr.


Wenn wir Besuch bekamen, entschuldigte ich mich fast für unsere "hässliche" Katze. Doch eine gute Freundin sagte irgendwann: "Sie ist doch nicht hässlich." Das beruhigte mich komischerweise, als ob eine Bestätigung von außen nötig wäre. Heute frage ich mich, warum mich so eine unsympathische Eitelkeit begleitete.


Knopf, die Getigerte, wurde schnell der Liebling im Haus. Sie war immer eine Sorgenkatze, oft krank, auch schwer krank, und musste immer wieder gepflegt werden. Luna hingegen war immer quirlig und pfiffig, eine richtige Strolchkatze, immer mit erhobenem Schwanz. Luna erhielt viel schneller einen Anschiss, wenn sie etwas kaputt machte. Ich denke gerade an unseren ersten Weihnachtsbaum, den sie malträtierte. Weihnachtskugeln flogen auf den Boden und zerbrachen in Einzelteile.


Früher habe ich oft mit Müttern darüber gesprochen, ob sie vielleicht ein Kind lieber mögen. Die meisten sagten, sie lieben alle ihre Kinder gleich, nur auf unterschiedliche Weise. Das gilt auch für unsere Katzen. Luna musste sich jedoch unsere Liebe mehr erkämpfen, weil wir oberflächlich an einem Bild festhielten, wie eine Katze aussehen und sein sollte. In der Yogaphilosophie spricht man von Anhaften, dem Festhalten an Vorstellungen und Bildern, wie etwas sein sollte. Anhaften ist im Buddhismus eine große Leidquelle. Luna lehrte uns, diese Vorstellungen loszulassen und wahre Liebe zu erkennen. Sie hat sich auf unser Herz gesetzt, körperlich wie auch emotional.


Luna ist eine sehr sanfte und feine Katze, was aber nicht bedeutet, dass sie keine gute Jägerin ist. Sie ist immer in unserer Nähe und liegt am liebsten ganz nah bei uns. Wenn wir für ein paar Tage wegfahren und nach Hause kommen, rennt sie über 40-50 Meter über die Wiese, schmeißt sich auf den Boden und zeigt ihren Bauch zum Kraulen. Sie weckt mich jeden Tag. Sie tröstet mich auf ihre besondere Luna-Art. Manche würden sagen, sie ist ein aufdringliches Wesen, aber für uns ist sie einfach Luna.


In den letzten zwei Wochen war sie immer wieder beim Tierarzt oder im Spital. Es ist so komisch, dass sie so oft nicht da ist. Sie ist doch immer da. Irgendwann wird sie tatsächlich woanders sein. Ach, könnte ich das Leben doch festhalten. Doch schon ertönt die innere Stimme der Trauerbegleiterin: "Es tut mir wirklich sehr leid, dass es deiner Katze sehr schlecht geht, aber müsstest du nicht als professionelle Begleitung einen heilsameren Umgang mit Krankheit und Tod haben?" Doch meine Bewahrerin in mir rollt nur die Augen.


In meiner Ausbildung zur Achtsamkeitslehrerin bei Dr. Ennenbach, die viele Strömungen aus dem Buddhismus integriert, habe ich verschiedene praktische Übungen gelernt und gute Erklärungen gefunden. Wenn wir Trauer spüren, sind oft unsere depressiven Persönlichkeitsanteile aktiviert. Diese Anteile können verschiedene Namen haben, wie z.B. der innere Hilflose, das innere Opfer oder der innere Trauerkloss. Sie übernehmen schnell das Kommando, lähmen uns im Alltag und führen zu einem inneren Rückzug. In solchen Momenten fühlen wir uns kraftlos, antriebslos, desinteressiert und melancholisch.


Hier kann es hilfreich sein, diese inneren Anteile zu beobachten und ihnen Namen zu geben. Die Anteile fragen: Was brauchst du jetzt? Und wenn nicht gleich eine Antwort kommen sollte, dann sei eine gute Freundin für dich selbst. Warte. Hab Geduld. Doch meine wichtigste Erkenntnis ist immer wieder, wie wichtig es ist, Trauer auszudrücken – jeder auf seine eigene Art. Ich persönlich schreibe, führe Gespräche mit Luna, auch wenn sie nicht physisch da ist, und finde Trost in Bewegung wie Spaziergängen und Yoga. Lesen hilft mir auch sehr. Vor kurzem las ich das Buch "Was ist ein lebenswertes Leben" von Barbara Schmitz. Die Philosophin hat eine Tochter mit einer geistigen Behinderung und verlor ihre Schwester durch Suizid. Sie sprach mit vielen schwerkranken Menschen, um dieses Buch zu schreiben.


Dort beschreibt sie auch, wie ihr Familienhund eine Vorderpfote durch Knochenkrebs verlor und ebenfalls eine Trauerphase durchmachte, sich zurückzog und das Gleichgewicht nicht halten konnte. Doch irgendwann begann der Hund sich anzupassen und lernte mit drei Beinen fröhlich die Welt zu erkunden. Schmitz schreibt, dass sich die Werte ihres Hundes veränderten – früher war Ungeduld und Draufgängertum angesagt, heute genießt er die Pausen während des Spaziergangs, schnuppert die Waldluft und den Wind.


Auch bei Luna habe ich Veränderungen wahrgenommen – die vermehrte Suche nach Wärme und Nähe, das neugierige Beobachten der Vögel im Sitzen, vor allem Amseln, die ihr Katzenfutter wegessen, das sie verschmäht hatte. Ich beobachte, wie ihre Anpassungsfähigkeit wächst und sie einen Umgang mit ihrer Krankheit sucht.


Mein Mann, der anfangs gegen Luna war und streng mit ihr umging, hat sie in den letzten zwei Wochen so liebevoll und fürsorglich gepflegt, dass ich wieder mal tief in mir spüre, wie Gefühle wie Leid und Schmerz uns menschlicher machen. Sie bringen uns dazu, Verantwortung zu übernehmen und uns den Herausforderungen des Lebens zu stellen. Dabei spielt es keine Rolle mehr, ob es Liebe auf den zweiten Blick ist – es ist Liebe.


Mein Herz ich will dich fragen:

Was ist denn Liebe, sag?

Zwei Seelen und ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!

Und sprich, woher kommt Liebe?

Sie kommt und sie ist da!

Und sprich, wie schwindet Liebe?

Die war's nicht, der's geschah! Und was ist reine Liebe?

Die ihrer selbst vergißt!

Und wann ist Lieb am tiefsten?

Wenn sie am stillsten ist!

Und wann ist Lieb am reichsten?

Das ist sie, wenn sie gibt!

Und sprich, wie redet Liebe?

Sie redet nicht, sie liebt!

Friedrich Halm (1806 - 1871)



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