Kränkungen können einsam machen, müssen aber nicht
In diesem Artikel geht es um Kränkungen, Hochsensibilität, eine Freundin, die mir einen Glückskäfer auf den Tisch legt und weibliche Würde. Vielleicht gehörst du zu den Menschen, die schnell das Gefühl haben, nicht gesehen und akzeptiert zu werden, oder du hast Menschen in deinem privaten oder beruflichen Umfeld, die leicht gekränkt sind. Um diesen Themen auf den Grund zu gehen, habe ich verschiedene Gedanken, Impulse und Übungen zusammengestellt.
Dabei war es mir wichtig, die Komplexität des Themas zu erfassen und nicht in einfache Floskeln wie „Sei du selbst“ zu verfallen. Die Denkanstöße, die ich anbiete, sind vielfältig und können unterschiedlich auf dich wirken. Wenn einige davon nicht zu dir passen, ist das völlig in Ordnung – lass sie einfach beiseite und nimm das mit, was für dich stimmig ist. Ebenso möchte ich darauf hinweisen, dass ich nicht auf tiefe Kränkungen eingehen werde, da diese eher in therapeutische Hände gehören.
Vor vielen Jahren legte mein Mann mir einen Zeitungsartikel auf den Tisch und sagte: „Ich glaube, das könnte dich betreffen.“ Neugierig las ich den Artikel und bestellte mir anschließend ein Buch zu diesem Thema. Als ich darin die folgenden Punkte las – intensivere Wahrnehmung von Geräuschen, tiefere Verarbeitung aller Eindrücke, ausgeprägte Intuition, Neigung zu Überstimulation, tiefe Reflexion, Nachdenken und Nachempfinden, Fehler-Sensibilität bei sich und anderen – musste ich bei vielen davon mit einem klaren „Ja“ antworten. Es scheint, als wäre ich hochsensibel oder zartbesaitet.
Im Rückblick erkannte ich bereits in meiner Kindheit Hinweise auf meine Sensibilität. Ich erinnere mich, dass ich als Grundschülerin große Angst vor meiner Lehrerin hatte. In meiner Erinnerung wirkte sie streng und barsch. Meine Eltern baten sie wiederholt in der Sprechstunde, doch etwas feinfühliger mit mir umzugehen. Obwohl sie sich, so glaube ich, stets darum bemühte, war dies für mich kaum spürbar. Jahre später sprach ich mit meiner Schwägerin über unsere Schulzeit und es stellte sich heraus, dass wir die gleiche Lehrerin hatten. Meine Schwägerin empfand sie als gute Lehrerin. Diese unterschiedliche Wahrnehmung hat uns zum Lachen gebracht.
Einige Jahre später, als ich etwa zwölf Jahre alt war, verbrachte ich die Ferien mit meinem Vater und meiner Stiefmutter in Italien. Ein befreundetes Ehepaar meiner Stiefmutter war mit seiner Familie ebenfalls dabei. Auf der Heimreise nach zwei Wochen sagte ich meiner Stiefmutter, dass sich das Paar bald trennen würde. Beide, mein Vater und meine Stiefmutter, reagierten ungläubig und meinten: „Das ist Unsinn, die beiden sind glücklich.“ Ein halbes Jahr später trennten sie sich tatsächlich. Ich möchte anmerken, dass dies kein sechster Sinn war, sondern vielmehr eine genaue Beobachtung. Ich hatte viele kleine Anzeichen wahrgenommen – kleine Kränkungen und gekränkte Reaktionen, fehlender Blickkontakt, ein leerer Blick im Gegensatz zu einem erwartungsvollen, ein Nicht-aufeinander-Warten, spürbare Traurigkeit im Vergleich zu Gleichgültigkeit.
Beide Erlebnisse zeigen, dass etwas in mir steckt, das mich gleichzeitig öffnet und eng macht.
War meine Grundschullehrerin wirklich barsch, oder habe ich sie nur so wahrgenommen? Fühle ich, was andere nicht fühlen, und ist das immer wahr, was ich fühle? Obwohl das Thema "Sensibilität" für mich von großer Bedeutung ist – es hat mein Leben geprägt und wahrscheinlich viele meiner Entscheidungen beeinflusst –, habe ich mich entschieden, mich nicht allzu sehr darauf zu konzentrieren.
Vermutlich habe ich intuitiv gespürt, dass ich mein körperliches und mentales Immunsystem vor allem stärken kann, wenn ich nicht zu sehr auf diese Sensibilität fokussiere. Doch ich glaube, jeder muss seinen eigenen Weg finden, um damit umzugehen. Aus heutiger Sicht sehe ich sowohl die Vor- als auch die Nachteile meiner Herangehensweise.
Aktive und Passive Sensibilität
Bereits im Mittelalter unterschied man zwischen aktiver und passiver Sensibilität. Aktive Sensibilität bezieht sich auf Empfindsamkeit, Empfänglichkeit und Sensibilität im positiven Sinne: ein ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Negativ verwendet, bezeichnet sie jedoch eine Überempfindlichkeit, die darauf hindeutet, dass eine Person den Herausforderungen des Lebens nicht gewachsen ist.
Passive Sensibilität wurde oft mit Rührung gleichgesetzt, jedoch überwiegend negativ verstanden, im Sinne von Weinerlichkeit, Überspanntheit und einer übermäßigen Reizbarkeit der Nerven (zitiert nach Svenja Flaßpöhler, Sensibel, Seite 16). Die Philosophin Svenja Flaßpöhler schreibt über die positive Entwicklung von mehr Empathie und die Verfeinerung des Miteinanders als zivilisatorische Errungenschaft. Gleichzeitig beleuchtet sie aber auch die negativen Konsequenzen einer Gesellschaft, die zunehmend von Sensibilitäten geprägt ist.
In meinem Artikel möchte ich jedoch in eine andere Richtung gehen, nämlich direkt zur Kränkung – einem Thema, das eng mit der Sensibilität verknüpft ist.
„Das war ich nicht“ und „Außerdem hast du letzte Woche...“
In diesem Abschnitt werde ich wohl nicht allzu gut wegkommen. Wenn man einen ehrlichen Blick wagt – oder zumindest den Versuch eines solchen – landet man oft bei den unangenehmsten Stellen. Aber wie heißt es so schön? „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ungeniert.“ In meinem Umfeld höre ich oft: „Zu dir darf man nichts sagen, gleich bist du beleidigt.“ Zugegeben, es ist hauptsächlich mein Mann, der mir das direkt ins Gesicht sagt (ich wollte ja ehrlich sein). Bei Freunden und Kollegen versuche ich, diese Empfindsamkeit eher im Zaum zu halten.
Sätze wie „Das war ich nicht“ und „Außerdem hast du letzte Woche...“ kommen mir sofort über die Lippen, wenn ich kritisiert werde. Wahrscheinlich werden in solchen Momenten meine kindlichen Anteile direkt angesprochen. Ich muss zugeben, dass ich relativ schnell gekränkt und beleidigt bin. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Meine Sensibilität, familiäre Einflüsse und andere Faktoren spielen eine Rolle.
Doch ich möchte nicht nur über mich selbst sprechen. Vielmehr möchte ich Ideen und Gedanken teilen, die auch für dich hilfreich sein könnten.
Wie entsteht das Gefühl der Kränkung und warum schmerzt es so sehr?
Kränkungen sind überall präsent und können in vielerlei Formen auftreten. Sie können bewusst oder unbewusst sein, leise und unauffällig oder provokant und auffällig. Sie betreffen uns individuell und kollektiv, wirken tiefgreifend und erschütternd. Ob verbal oder körperlich, privat oder beruflich – wir begegnen ihnen in vielen Bereichen unseres Lebens. Das liegt daran, dass Kränkungen eine ganz natürliche menschliche Reaktion sind. Wir erleben sie selbst und sind auch diejenigen, die andere kränken. Kränkungen beeinflussen nicht nur unser Selbstbild, sondern auch unser Bild von der Welt.
Kränkungen sind schwer messbar und kategorisierbar. Sie entziehen sich jeder Systematik und erscheinen oft unfassbar, weil sie keiner klaren Logik folgen. Ein unbedachtes Wort, eine ironische Bemerkung oder achtlose Gesten – all dies kann tief verletzen, ohne dass der Absender sich dessen bewusst ist. Es gibt keinen Takt oder Rhythmus, der diese verletzenden Botschaften regulieren könnte, und genau das macht sie so unberechenbar. Wie stark jemand gekränkt werden kann, hängt von Faktoren wie Selbstwert, Persönlichkeit, Lebensphase, Lebensbedingungen, Geschlecht und sozialer Einbettung ab.
Kränkungen können jede menschliche Verhaltensweise durchdringen: Beleidigungen, Entwertungen, Spott, Abweisungen, Besserwisserei, Ignoranz und Mobbing sind nur einige der vielen Formen, die sie annehmen können. Besonders verheerend wirken sie, wenn sie das Liebesbedürfnis eines Menschen ignorieren oder durch Täuschungen und Vertrauensbrüche entstehen. Der Kontext, in dem eine Kränkung stattfindet, ist entscheidend. Eine scheinbar harmlose Bemerkung kann in einem sensiblen Moment zu einer tiefen Verletzung führen – eine kleine Ursache mit großer Wirkung. Ein Beispiel: Eine Führungskraft äußert vor dem gesamten Team: „Du bist sehr genau und sorgfältig.“ Obwohl dies als Kompliment gemeint ist, könnte der Empfänger es als Kritik verstehen und den Eindruck gewinnen, langweilig und angepasst zu sein.
In Situationen der Kränkung spielt die Nichterfüllung grundlegender psychischer Bedürfnisse eine entscheidende Rolle. Bedürfnisse wie gesehen, gehört, anerkannt, verstanden und beantwortet zu werden, sind essenziell für unser Wohlbefinden. Wenn diese Bedürfnisse nach Beachtung, Wertschätzung, Liebe und Zugehörigkeit nicht erfüllt werden, leidet unser Selbstwertgefühl darunter. Denn unser Selbstwertgefühl basiert auf der Befriedigung dieser Bedürfnisse; wenn sie nicht genährt werden, wird unser Selbstwertgefühl unmittelbar in Mitleidenschaft gezogen (zitiert nach Wardetzki, Nimm’s bitte nicht persönlich, Kindle, Seite 20).
In solchen Momenten beginnen wir, uns selbst zu hinterfragen, fühlen uns schuldig und entwertet. Ein Teufelskreis aus Enttäuschung und Selbstkritik kann sich schnell entwickeln.
Wir kämpfen oft mit einem schwachen Selbstwertgefühl und sind besonders abhängig von externer Anerkennung. Schon ein kleines Fehlen dieser Bestätigung kann uns in ein vermeidbares Dilemma stürzen. Ein stabiles Selbstwertgefühl zeigt sich meist nur auf der Sonnenseite des Lebens.
Kränkungen treffen uns oft an unseren wunden Punkten, die oft mit alten Verletzungen zusammenhängen und nicht direkt mit der aktuellen Situation. Stell dir vor, du bittest eine Arbeitskollegin höflich, sich mehr in die Diskussion einzubringen. Sie reagiert gekränkt, vielleicht sogar zynisch. Du verstehst die Welt nicht: Du hast deine Bitte freundlich formuliert, vielleicht sogar als Ich-Botschaft, und dennoch ist die Situation eskaliert. Das zeigt, dass man nicht immer für die Kränkung des anderen verantwortlich ist. Kränkungsreaktionen sind oft mit Gefühlen von Ohnmacht, Empörung, Wut, Verachtung und Enttäuschung verbunden.
Meistens spiegelt die Reaktion des Gekränkten einen Zustand wider, in dem der Zugang zu tieferliegenden Emotionen wie Schmerz, Angst und Scham vermieden wird. Diese Gefühle werden unterdrückt, weil sie zu schmerzhaft sind, und die Kränkung dient als Abwehrmechanismus. In ihrem Buch „Nimms bitte nicht persönlich“ gibt die Psychologin Bärbel Wardetzki wertvolle Ratschläge.
Einer davon mag simpel erscheinen, ist aber oft der wichtigste erste Schritt: Gestehe dir die Kränkung ein.
Kränkung: Wie sie uns krank macht und verbittert
Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass ständige Kränkungen eine erhebliche Belastung für den Körper darstellen. Dauerhafter Stress führt zu Muskelverspannungen, erhöhtem Blutzuckerspiegel und Schlafstörungen, geschwächtes Immunsystem, Verdauungsprobleme usw. Kränkungen können zu Erstarrung, Angst, Unsicherheit, Trauer, Zermürbung und einem Gefühlsstau führen und hinterlassen Resignation, Verbitterung und Enttäuschung. Sie erschüttern nicht nur die persönlichen Werte eines Menschen, sondern können langfristig auch psychische Erkrankungen verursachen.
Natürlich könnte ich dir sofort eine Reihe von Tools und Strategien vorstellen, wie du mit Kränkungen umgehen kannst oder wie du Menschen begegnen kannst, die schnell gekränkt sind. Ratgeberliteratur gibt es zuhauf, und viele Impulse sind tatsächlich hilfreich. Dennoch möchte ich zunächst eine Lücke schaffen – zwischen dem Verletzlichen und dem Starken, zwischen Nichtfreien und Freiem, zwischen Ohnmacht und Handlung, zwischen Sprachlosigkeit und Kommunikation.
Die Dynamik der Kränkung zieht sich durch alle Lebensbereiche und reicht bis in die Gesellschaft und Weltpolitik. Die verheerenden Auswirkungen von Kränkungen werden besonders deutlich in den Konflikten, Demütigungen, Diskriminierungen und Zerstörungen, die wir in Kriegen und politischen Auseinandersetzungen sehen. Nur das ständige „Wundenlecken“ erzeugt weiterhin Unfrieden.
Das Wort „Kränkung“ stammt vom mittelhochdeutschen „krenken“, was so viel wie schwächen, mindern, schädigen, zunichtemachen, plagen und erniedrigen bedeutet. Ein verwandter Wortstamm, „kranc“, beschreibt etwas als schmal, gering oder schwach. Diese Ursprünge deuten bereits darauf hin, wie sich Kränkungen negativ zeigen und möglicherweise auf unsere Gesundheit auswirken können.
Unser tatsächliches Leben ist sehr viel reichhaltiger
Da ich zu Beginn dieses Artikels meine Sensibilität und leichte Kränkbarkeit erwähnt habe, möchte ich auch damit enden. Manchmal fühlt sich meine Verletzlichkeit so an, als hätte sie keinen Boden. Gesten, Sätze, unausgesprochene Worte oder auch Kritik scheinen wie in ein bodenloses Loch in mir zu fallen. In der Psychologie spricht man in solchen Momenten von einem „Schreck“, den man erlebt, wenn man sich angegriffen fühlt. Auch ich erfahre diesen Schreck immer wieder – er macht mich sprachlos. Schlagfertigkeit ist nicht meine Stärke. Stattdessen bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht, besonders bei Kränkungen, die ich im beruflichen Umfeld als Lehrerin oder Dozentin erlebe. Ich stehe vorne, selbstgewählt, und werde dadurch angreifbar. Vielleicht ist es Eitelkeit, vielleicht der Wunsch, gut zu sein – doch negative Rückmeldungen schmerzen, auch wenn die positiven Momente mich erfreuen. Doch während das Lob schnell verfliegt, bleiben die Kränkungen haften. Wie eigenartig wir Menschen doch sind.
Eine Freundin erzählte mir kürzlich von einer Fortbildung zum Thema „Klarheit und Kommunikation“. Die Dozentin dort sprach davon, wie sie sich nach einem Seminar fünf Fragen stellt:
1. Was habe ich gut gemacht?
2. Was habe ich gut gemacht?
3. Was habe ich gut gemacht?
4. Was habe ich gut gemacht?
5. Was würde ich beim nächsten Mal anders machen?
In einer Welt, die von Erfolg und Produktivität dominiert wird, bleibt kaum Raum für das Scheitern oder die schmerzlichen Emotionen, die durch Kränkungen ausgelöst werden. Diese Gefühle passen nicht in das durchorganisierte, auf Effizienz ausgerichtete Leben, das die moderne Zeit von uns fordert. Doch gerade weil sich diese Emotionen nicht in Zahlen fassen oder in Kategorien einordnen lassen, sollten wir ihnen Aufmerksamkeit schenken. Der Philosoph Kieran Setiya beschreibt, wie er lange Zeit sein Leben als ein Projekt betrachtet hat, das darauf ausgerichtet war, abgeschlossen zu werden – ein Leben, das er allein nach den Kriterien von Erfolg und Misserfolg, Sieg und Niederlage bewertete. Dabei übersah er die wahre Vielfalt des Lebendigseins. Wenn wir Kränkungen umsichtig und versöhnlich begegnen, fördert das unsere Menschlichkeit und Berührbarkeit.
Kränkungen können uns krank machen, Beziehungen zerstören und uns von unserer Vitalität und Empfänglichkeit entfremden. Doch die Fähigkeit, gekränkt zu werden, oder das Gefühl, dass uns etwas leid tut, weil wir jemanden verletzt haben, zeigt auch, dass uns unser Gegenüber wichtig ist. Diese Empfindungen sind Ausdruck unserer emotionalen Verbundenheit und unseres Mitgefühl. Sie erinnert uns daran, dass wir in einer sozialen Gemeinschaft leben, in der unsere Autonomie immer wieder in Beziehung zu anderen steht.
Die Auseinandersetzung mit unseren eigenen Kränkungen und denen, die wir anderen zufügen, ist ein entscheidender Schritt, um uns selbst besser kennenzulernen und unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu verbessern.
Ich glaube, dass besonders wir Frauen Sensibilität und Verletzbarkeit nicht missverstehen sollten. Wir dürfen uns nicht ausschließlich in unserer Weichheit verlieren. In Momenten der Kränkung fühlen wir uns vielleicht geschwächt, doch in uns gibt es eine Kraft, die uns für das Chaos und das Unvorhersehbare stärkt. Vielleicht fehlen uns im Moment der Verletzung die Worte, vielleicht fühlen wir uns entfremdet im eigenen Körper, als würde die Luft wegbleiben, und denken an Flucht... Doch irgendwann legt sich die Woge, und wir können nachdenken, fühlen, ausdrücken, gestalten, sprechen, bewegen. Wir sind nicht mehr hilflos, sondern handeln. Unsicher und verletzlich zu sein, macht uns menschlich. Wir sehen das Freie im Unfreien und plötzlich entsteht ein offenes Feld vor uns.
Das Schwierige an Situationen, die uns quälen, ist, dass wir unseren Schmerz nicht dauerhaft verstecken oder durch ständig wechselnde Reaktionen kaschieren können. Dies kann dazu führen, dass unser Schmerz wie ein Wackelpudding wird, bei dem andere nicht wissen, worauf sie sich einlassen. Die Philosophin Barbara Bleisch schlägt eine hilfreiche Qualität vor: die Kenntlichkeit.
Ein Mensch wird durch viele Facetten „kenntlich“: durch seine Stimme, seine Fähigkeit, Nein zu sagen, seine Präsenz, seinen Humor sowie seine Werte und Überzeugungen. Die moralischen Grundsätze und die persönliche Ethik spiegeln sich im Denken und Handeln wider. Auch die Lebensgeschichte und die Erfahrungen, die einen reifen ließen, spielen eine bedeutende Rolle. Diese Erlebnisse haben uns geformt und uns eine Form gegeben.
Entscheidend ist die Reflexion: Was habe ich aus meinen Erfahrungen gelernt? Wer bin ich heute? Was gibt mir Halt? Was erfüllt mich mit Freude? Was möchte ich nicht mehr? Welche schönen Erinnerungen trage ich in mir? Diese Reflexion trägt man nach außen, schüttelt das Kleinsein ab oder bringt es an einen guten Ort, wo es sein darf, und stellt sich die wesentliche Frage: „Wer will ich im Verhältnis zu mir selbst sein?“
Eine Selbstgeißelte oder eine Befreierin?
Eine Feindin oder eine Freundin?
Eine Amazone oder Zerstörerin?
(Das Wort „Kenntlichkeit“ sowie die Frage „Wer will ich im Verhältnis zu mir selbst sein?“ stammen aus dem Buch "Mitte des Lebens" von Barbara Bleisch, Hansen, Seite 140.)
Umgang mit Kränkungen: Was uns hilft
Hier sind weitere Impulse aus dem erwähnten Buch (Nimm`s bitte nicht persönlich - Bärbel Wardetzki)
Bewusstes Atmen
Bewegung
Stelle Distanz her – In der Distanz Klarheit finden
Welche Bedürfnisse blieben unerfüllt?
Kläre deine Gefühle, Gedanken und Reaktionen
Rache ist meist nicht süß
Ärger mitteilen (z. B. „Ich fühle mich gekränkt, weil folgendes Verhalten von dir…“)
Psychologische Spiele vermeiden
Unterstützung holen
Drama rausnehmen
Kränkungen klären, nachfragen
Die Rolle des anderen einnehmen
...
Und vielleicht müssen wir auch nicht immer alles allein bewältigen. In einer Phase von Selbstzweifeln legte mir eine gute Freundin einen Glückskäfer auf den Schreibtisch. Sie schrieb mir in der Pause: „Wie läuft es?“ und besuchte mich in der Mittagspause. Ihr Humor, den ich sehr schätze, tut einfach gut. Vielleicht können wir unsere Verletzungen mit Übungen und Methoden heilen, doch die gegenseitige Unterstützung macht den Weg leichter.
Noch ein wichtiger Gedanke: Vielleicht denkst du jetzt an jemanden, der ständig gekränkt und beleidigt ist, und hast keine Lust auf Unterstützung oder ähnliche Maßnahmen. Das ist verständlich, und manchmal ist es auch nicht sinnvoll. Da hilft nur Ehrlichkeit, klare Grenzen zu setzen und bei sich selbst zu bleiben.
Doch bei anderen Menschen hilft manchmal einfach ein „Ich bin da“ – zuzuhören, mitzufühlen, aber auch eine andere Perspektive einzubringen.
Wie bei dem Sänger Lewis Capaldi, der unter dem Tourette-Syndrom leidet. Die Szene auf dem Glastonbury-Festival war sehr berührend wie Capaldis eigene Balladen. Vor Zehntausenden von Fans stehend, wurden seine Tics gegen Ende des Konzerts immer stärker. Sein Kopf zuckte unkontrolliert zur Seite, seine Schultern ruckten, und er räusperte sich immer wieder. Schließlich war er nicht mehr in der Lage, den Song „Someone You Loved“ zu Ende zu singen. An diesem Punkt hätte das Konzert einfach enden können. Doch stattdessen übernahmen die Fans und sangen das Lied für ihn zu Ende.
Mir ist völlig bewusst, dass ich diesem großen Thema nicht vollständig gerecht werden kann. Der Artikel soll lediglich ein wenig Öffnung schaffen und zum Nachdenken anregen. Zum Abschluss möchte ich ein Zitat aus dem Buch "des Lebens" von Barbara Bleisch teilen.
Welches Problem, das Sie früher hatten, haben Sie heute nicht mehr? Für mich ist es die Angst, nicht der Mensch zu werden, der ich sein wollte.
– Philippe Chappuis, alias Zep
Das bedeutet für mich, dass ich lerne, manche negative Kritiken nach sorgfältiger Prüfung abzulehnen und bei anderen offen nachzufragen. Ich entwickle ein Gespür dafür, auf solidem Boden zu stehen und mich selbst besser einzuschätzen. Vielleicht streiche ich die Sätze „Das war ich nicht“ und „Außerdem hast du letzte Woche...“ aus meinem Repertoire. (Augenzwinker) Und du?
Herzliche Grüsse,
Daniela
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