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"Sind sie allmächtig?"

Aktualisiert: 20. Feb. 2022

Reinhold Messner, der erfahrenste und erfolgreichste Bergsteiger der Welt ist, musste ein Drittel seiner Expeditionen abrechen (Buch: Nachruf auf mich selbst, Harald Welzer)


Ich habe es nicht geschafft!


Vor einigen Tagen erhielt ich eine Mail von einer Interessentin, die sich nach dem Workshop für Sternenmamas erkundigte. Das Wort Vergebung hat sie sehr angesprochen, welches ich in der Ausschreibung erwähnt habe. Sie schrieb über ihre Trauer. Die Trauer darüber, dass sie ihr Kind während der Schwangerschaft nicht halten und beschützen konnte. Über ihre schweren Gefühle, die tief in ihr sitzen. Über den Wunsch, sich selbst zu vergeben. Die Selbstanklage ist eine weitverbreitete Verhaltensweise.

Ich habe es nicht geschafft - Diese Aussage kennen viele von uns, aber vielleicht in einem anderen Kontext.

Ich habe es nicht geschafft... die Krankheit zu besiegen

Ich habe es nicht geschafft... meine Ehe zu retten

Ich hab es nicht geschafft... mich zu wehren

Ich habe es nicht geschafft... ein gesundes Kind zu bekommen

Ich habe es nicht geschafft... meine Mutter glücklich zu machen

Ich habe es nicht geschafft... ein Kind auf die Welt zu bringen


Ich begegne der deutschen Sprache mit Neugier und gehe häufig mit spannenden Wörtern auf Entdeckungsreise. So wie auch mit dem Wort „Schaffen“. Der Begriff ist mit dem schwachen Verb „schöpfen“ verwandt und wird z.B. in folgenden Redewendungen verwendet:

  • ein Kunstwerk schaffen

  • der schaffende (schöpferisch arbeitende) Mensch, Geist

  • für etwas wie geschaffen sein (für etwas ganz besonders geeignet, tauglich, passend sein)


Als ich mir Gedanken über die Begrifflichkeit machte, ist mir eine Geschichte eingefallen, die mir vor einigen Jahren eine Frau erzählte. Diese Frau war bei einer Psychologin und berichtete in der Sitzung von ihrer schwierigen Familiensituation. Sie äusserte sich über die Drogenproblematik ihres Kindes und über die ständige Unzufriedenheit ihres Mannes. Daraufhin fragte die Psychologin: „Sind sie allmächtig?“ Diese kurze und knappe Frage bewirkte sehr viel bei ihr. Zuerst spürte sie Wut gegenüber der Psychologin, die ihr vermeintlich nicht genügend Empathie entgegenbrachte. Später, weil die Frage vieles ins Rollen und in Ordnung brachte. Sie stellte erleichtert fest: Nein, ich bin nicht allmächtig!



Das Leben trägt Geheimnisse


Das Leben trägt einige Geheimnisse in sich, die wir wohl niemals ganz ergründen werden. In der Auseinandersetzung mit Lebenskrisen suchen wir oft nach Erklärungen und Antworten.

Wenn ich auf die erwähnten Redewendungen (vorheriger Beitrag) blicke, frage ich mich:

Kann es wirklich sein, dass das Leben sagen möchte: Du bist nicht besonders geeignet, eine Mutter zu sein oder du verfügst nicht über die nötige Schöpfungskraft, die andere Frauen in sich haben? Du bist nicht tauglich für das Leben und deswegen bist du nicht gesund. Das erscheint mir unwahrscheinlich und fremd.







Was bedeutet Eigenmacht?


In vielen Gedichten schrieb Rainer Maria Rilke über die Schöpfungskraft, die er vor allem in der Natur und in deren Verwandlungskunst entdeckte wie z.B. beim Wachsen, Reifen, Blühen und Verwelken. Warum sollte die Verwandlungskunst nicht auch durch uns Menschen fliessen. Wie würde es sich anfühlen, wenn das Gefühl „Es nicht geschafft zu haben“ sich in etwas Gutes wandeln könnte. Was hilft, ist die Würdigung deiner Hingabe und deines Einsatzes. Du hast alles gegeben, was in dir war, all deine Schätze und Stärken. Das Verborgene sichtbar machen. Dich zu fragen: „Was ist mir gelungen?“ Welche Handlungsmöglichkeiten habe ich jetzt? Was bedeutet Eigenmacht für mich? Wo schöpfe ich Kraft? Was kann ich wirklich beeinflussen?



Auch ich musste mich von vielen Plänen, Wünschen, Menschen usw. verabschieden. Das tut immer weh! Bücher haben mir dabei stets geholfen. Ich schätze Bücher, die es einem erlauben, die eigene Maske absetzen zu lassen. So schreibt z.B. der Soziologe Harald Welzer in seinem Buch über seine Freundin Katja Baumgarten (Buch "Nachruf auf mich selbst", Harald Welzer Seite 173). Sie ist Filmemacherin und drehte einen Film (Mein kleines Kind) über sich selbst. Eine Frau, die nach einer Untersuchung die Diagnose bekommt, dass ihr Kind im Mutterleib ein komplexes Fehlbildungssysndrom hat und nur kurze Zeit nach der Geburt sterben wird. Ihr Arzt zu ihr: Sie müssen entscheiden. Die absolute Notsituation hat dazu geführt, dass sie Aufklärungsarbeit leisten wollte. Der Film beschäftigte sich neben der Frage der Pränataldiagnostik und deren Folgen auch mit der Frage, wie man mit den Erwartungen der Gesellschaft und des Umfelds umgeht , die kaum Rituale für das Ende und des Aufhörens haben.






Katja Baumann sieht den Tod nicht als Aufhören, sondern als Ende eines linearen Verlaufs, der mit der Geburt beginnt. Der Fluss des Lebens verläuft nur in eine Richtung, und wenn es zu Ende geht, wird es rund. Aber nicht wie ein Kreis, sondern wie eine Kugel - räumlich.

Ja, wir scheitern, haben nicht immer sofort eine Antwort auf das Unerwartetete, wir werden Dinge gut meistern, viele Ziele erreichen, viele Ziele nicht erreichen, Sehnsüchte in uns tragen, Projekte vorantreiben, manches bereuen, Verluste erfahren, Neues wagen, das Leben anstrengend finden und das Leben geniessen. Was aber sicher ist: Wir brauchen wieder Rituale, die uns bei Übergängen und beim Abschied nehmen helfen. Und die uns ermöglichen, Freude zu teilen. Für mich ist mein Yoga eine grosse Quelle auf diesem Weg. Die Qualität der Hingabe und Demut finde ich in der Tibetischen Niederwerfung. Der sitzende Schmetterling schenkt mir Rückzug. Der Baum gibt mir Stabilität in stürmischen Zeiten. Die kreisenden Bewegungen vermitteln Leichtigkeit. Yoga zeigt mir, dass ich ein Teil der Natur bin. Dass ich Biologie bin. Dass Natur sich verwandelt. Yoga führt mich zum Ursprung. Zu den Geheimnissen des Lebens.

Diese Woche bekam ich sehr schöne Rückmeldungen von Kursteilnehmerinnen: (hab ganz tolle Frauen im Kurs und würde dies auch ohne dem Kompliment sagen - Augenzwickern) "Du gestaltest den Raum so liebevoll und herzlich! Man fühlt sich einfach wohl!" Früher hätte ich das Kompliment mit einer abwehrenden Handbewegung und flapsigem Spruch niedergeschmettert. Heute freue ich mich darüber. Geschafft! Oder verwandelt?

"Ich liebe es, mit Menschen einen gemeinsamen Raum zu gestalten! Ich mag es, den Bewegungen Bilder zu geben. Schaffenskraft herauszukitzeln."


Ich glaube, dass in dem Wort "Schaffen" auch viel Potenzial liegt. Menschen erschaffen mit den Händen, mit ihrem Verstand und mit ihrem Herzen so viel Schönes.



Das folgende Gedicht stammt von der amerikanischen Sängerin, Schauspielerin und Autorin, Portia Nelson:

I

Ich gehe eine Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Bürgersteig. Ich falle hinein. Ich bin verloren. Ich bin ohne Hoffnung. Es ist nicht meine Schuld. Es dauert endlos, wieder hinauszukommen.

II

Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Bürgersteig. Ich tue so als sähe ich es nicht. Ich falle wieder hinein. Ich kann nicht glauben, schon wieder am gleichen Ort zu sein. Aber es ist nicht meine Schuld. Immer noch dauert es sehr lange herauszukommen.

III

Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Bürgersteig. Ich sehe es. Ich falle schon wieder hinein… aus Gewohnheit. Meine Augen sind offen. Ich weiß, wo ich bin. Es ist meine Schuld. Ich komme sofort wieder heraus.

IV

Ich gehe dieselbe Straße entlang. Da ist ein tiefes Loch im Bürgersteig. Ich gehe darum herum.

V

Ich gehe eine andere Straße entlang.










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